S. Altorfer-Ong: Staatsbildung ohne Steuern

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Titel
Staatsbildung ohne Steuern. Politische Ökonomie und Staatsfinanzen im Bern des 18. Jahrhunderts


Autor(en)
Altorfer-Ong, Stefan
Reihe
Archiv des Historischen Vereins des Kantons Bern 86
Erschienen
Baden 2010: hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte
Anzahl Seiten
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Béla Kapossy, Faculté des Lettres Section d'histoire, Université de Lausanne

Innerhalb der europäischen Staatenlandschaft des achtzehnten Jahrhunderts bildete Bern in mehrfacher Hinsicht eine Ausnahmeerscheinung: Der bernische Staat erzielte laufend und konsistent Budgetüberschüsse, die Verteidigungsausgaben waren vergleichsweise tief, Staatsschulden gab es keine, stattdessen wurden die Überschüsse investiert, um so zukünftige Einnahmeströme zu sichern; und schliesslich gehörte die von der bernischen Bevölkerung getragene Steuerlast zu den niedrigsten in ganz Europa. Was gerade heute als Ding der Unmöglichkeit erscheinen muss, versetzte bereits Zeitgenossen in Erstaunen und Bewunderung. Kritikern der im achtzehnten Jahrhundert grassierenden Staatsverschuldung erschien Bern in diesem Zusammenhang als Beweis der natürlichen Überlegenheit von sparsamen und angeblich tugendhaften Republiken gegenüber kriegstreibenden Monarchien. Zwar wurde dabei viel über den Steuerfuss und besonders auch den Umfang des Berner Staatsschatzes spekuliert; nur, genaue Zahlen wie diejenigen, welche das Bundesamt für Statistik jährlich veröffentlicht, gab es damals keine. Das rührt zum einen daher, dass jegliche Preisgabe von Daten aus Gründen der Geheimhaltung peinlichst vermieden wurde, zum anderen schienen aber auch die Ratsherren selbst keine genaue Übersicht über die staatlichen Einnahmen und Ausgaben gehabt zu haben. Der Verdienst der vorliegenden Studie, die aus einer Dissertation am Historischen Institut der Universität Bern hervorgegangen ist, liegt unter anderem darin, endlich Licht in dieses Dunkel getragen zu haben. Das Ergebnis ist überaus bemerkenswert und dürfte sowohl Finanzhistoriker als auch Forscher, die sich mit der Entwicklung des frühneuzeitlichen Staatswesens im weiteren Sinne befassen, interessieren. Von methodologischen Ansätzen ausgehend, wie sie von Martin Körner, Stephan Hagnauer und Niklaus Bartlome entwickelt wurden, hat Stefan Altorfer-Ong die verschiedenen Manuale und Rechnungsbücher akribisch ausgewertet und die dabei gewonnenen Daten in ein modernes, auf heutige Staatsfinanzen ausgerichtetes Rechnungsmodell übertragen, wobei den beiden Stichdaten 1732 und 1782 besondere Aufmerksamkeit zuteil wird. In über siebzig Grafiken und zwanzig Tabellen werden die Resultate anschaulich dargestellt und eingehend im Text erläutert. Dabei erfährt man nicht nur, wie sich die Zehnteneinkünfte, der Staatsschatz sowie die verschiedenen Verbrauchsausgaben längerfristig entwickelten, sondern auch, wie sich unter anderem der Milizdienst am besten fiskalisch berechnen lässt. Daneben bietet die Studie eine Fülle von Einblicken in die Verwaltungspraxis des Alten Bern wie zum Beispiel in die von der Regierung ausgedachten Kontrollmechanismen, welche die Veruntreuung der in England platzierten Staatsinvestitionen verunmöglichen sollten. Das Misstrauen der Regierung schien in diesem Fall durchaus berechtigt, hatte doch der Mitbegründer der für die bernischen Investitionen zuständigen Bank Müller & Comp. die Republik auf Grund unlauterer Geschäfte im April 1720 um einen Jahrhundertgewinn von rund 415 000 Gulden gebracht. Infolgedessen beschloss die Regierung, die Investitionen direkt durch einen eigens ernannten Kommissarius für die Englischen Gelder, der dem Grossen Rat angehören musste, tätigen zu lassen, wodurch sämtliche Finanzintermediäre von der Verwaltung des bernischen Portfolios ausgeschlossen werden konnten. Als Ratsherr war nun der neue Kommissar der Republik durch Geburt und Amtseid verbunden. Ein weiterer Anreiz, seine Stellung nicht opportunistisch auszunutzen, sondern gewissenhaft auszuführen, ergab sich sodann aus der Drohung, bei Zuwiderhandlung bei Verlust von Ehre und Vermögen von sämtlichen künftigen Ämtern ausgeschlossen zu werden, wobei diese Sanktion nicht nur ihn persönlich, sondern seine ganze Familie betreffen sollte. Im damaligen Bern wahrlich ein guter Grund, seiner Pflicht redlich nachzukommen.

Das Besondere an Stefan Altorfer-Ongs origineller Studie besteht jedoch vor allem darin, dass sich der Autor weit über das übliche Feld einer technischen Finanzgeschichte hinausbewegt und, im Sinne von Richard Bonney und Martin Körner, Techniken der Finanzgeschichte zur Erkundung des bernischen Staatswesens einsetzt. Dies wird bereits anhand der ersten beiden Kapitel ersichtlich, in denen gekonnt die Verwaltungsstrukturen und die politische Kultur des Alten Bern nachgezeichnet werden. Die vom Autor gestellte wichtige Frage, welche Art von Staat das Alte Bern denn eigentlich darstellt, ergibt sich daraus, dass dieser in keines der von Historikern, Politikwissenschaftlern und Soziologen entworfenen gängigen Schemata passt. Auch Stefan Altorfer-Ong scheint sich in seiner Antwort nicht immer ganz einig zu sein. Wird im Laufe der Studie Bern nämlich häufig als Patrimonialstaat bezeichnet, wobei dieser Begriff leider kaum je gedeutet wird, so ist später auch von einem unternehmerischen Domänenstaat, Überfluss-Staat und Zehntstaat die Rede. All diese Begriffe scheinen auf den Fall Bern zuzutreffen, trotzdem wäre es wünschenswert gewesen, hätte der Autor sich dieser Frage am Schluss etwas dezidierter angenommen, wenn auch nur deshalb, um der Eigenheit der Stadtrepublik mehr Gewicht zu verleihen. Es bleibt nur zu hoffen, dass der vorliegenden Arbeit auch von einer weiteren Leserschaft die Beachtung zuteil wird, die ihr zweifellos gebührt.

Zitierweise:
Béla Kapossy: Rezension zu: Altorfer-Ong, Stefan: Staatsbildung ohne Steuern. Politische Ökonomie und Staatsfinanzen im Bern des 18. Jahrhunderts. Archiv des Historischen Vereins des Kantons Bern, Bd. 86. Baden: hier + jetzt 2010.
Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 75 Nr. 4, 2013, S. 54-55.

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Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 75 Nr. 4, 2013, S. 54-55.

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